"Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit."
Im Moment reist hier allerdings gar nichts mehr. Der ICE International parkt in Emmerich. Wegen einer Fliegerbombenentschärfung weiß niemand, wie es weitergeht und der bedauernswerte Schaffner ist ganz aufgeregt. Irgendwas ist ja immer...
Seit Dienstagfrüh bin ich nach langer Zeit wieder einmal allein unterweks. Ich kann es noch und darüber freue ich mich. Ich hätte in den Niederlanden bleiben sollen, in Zwolle, dem Ziel meiner Reise. Hier spielten am Dienstagabend Riverside - Progressive Rock aus Polen vom Allerfeinsten. Ich hatte einen Gig ihrer Wasteland-Tour schon letztes Jahr zusammen mit Ines in Berlin erlebt und befunden, dass das nicht reichte, so sehr hatte mich das Konzert berührt.
Mittags hatte ich gegenüber meiner Fratzbuck-Gemeinde mein Maul in Bezug auf meine niederländischen Sprachkenntnisse noch sehr voll genommen:
Goede middag Nederland, tot ziens Duitsland. Overstapping werkte. Das Umsteigen funktionierte gerade mal so...
Gut, im Hinblick auf das Wetter war noch sehr viel (nasse) Luft nach oben.
Nach vielen kleineren und größeren Umwegen durch Zwolle hatte ich schließlich mein Hotel gefunden. Den direkten Weg vom Bahnhof mit sprachfertiger Unterstützung von maps google finden kann ja jeder. Ich hatte sowohl mich als auch die Äpp verwirrt, indem ich immer wieder in kleine und noch viel kleinere Gässchen abgebogen war, weil es da so schön aussah…
Nach dem Einchecken und einem kleinen Regenerationspäuschen überfiel ich den Supermarkt Albert Heijn in der Nähe des Hotels, weil es da Cassis-Limo mit 0 Zucker und Vla mit lecker Zucker gibt. Meine mittäglichen Wortspielereien mit dem Niederländischen rächten sich prompt, als mich die Kassiererin und später noch eine andere Dame in ein Gespräch verwickeln wollten. NIX hab ich verstanden. Erstere fand dann Englisch OK und als ich den freundlichen Wortschwall der zweiten mit einem Kann nit verstaan beantwortete, hat sie mich lachend bedauert.
Niederländisch klingt in meinen Ohren ein bisschen wie kauverfälschtes Kauderwelsch, die eine oder andere heiße Kartoffel zu viel im Mund mit einem Grashalm im lachenden Mundwinkel. Ich ❣ die Niederlande!
Einreise nach Duitsland is nich. Terug naar Arnhem (für Reisende, die heute nicht mehr nach Duitsland wollen [ICH, ICH!!!] dann über den Grenzpunkt Venlo naar Mönchengladbach. O-Ton aufgeregter Schnauffener. Trotz dieser Ansage passiert erst einmal eine weitere halbe Stunde lang rein gar nichts. Dann räumt der nervöse Schaffner ein, dass die Fahrdienstleitung das Umweg-Ansinnen noch genehmigen muss… Bürokratie lass nach!
Aber zurück zum Dienstagabend. Vielleicht hätte ich den Umweg über die Garderobe im Hedon nicht machen sollen, denn die erste Reihe vor der Bühne war schon besetzt. Eine kleine Lücke fand ich dann doch noch, in die gerade mal ein Mensch passte. Links und rechts von mir war Platz für Videoaufnahmen abgesperrt... Ich hoffte inständig, dort bleiben zu dürfen, denn mein Stehvermögen ist nicht gerade das allerbeste und es hilft mir sehr, wenn ich mich immer mal wieder an der Bühne festhalten kann. Auf diese stütze ich meine Ellenbogen und vertiefte mich kommunikationstechnisch in mein Schmatzfon, bis mich ein sehr freundlicher Niederländer von links in seiner Sprache anquatschte und mir einiges erzählte. Interessant, aber ich hatte nicht einmal ein Viertel seiner Ausführungen gerafft. "Shall I go away?", fragte ich ihn daher. Das verneinte er lächelnd und erklärte mir, wie ich an dieser Stelle stehen durfte und wie nicht. Ich sollte mich nur nicht so weit vorbeugen und keinesfalls meine Rübe zwischen Kamera und Band halten. "It' s for Riverside", lachte er.
Klasse! Der Abend war gerettet.
Für mich sind Vorbands - bis auf wenige Ausnahmen - ein notwendiges Übel. Diese hier, Lesoir aus den Niederlanden, zeigte nach einem wenig überzeugenden Einstieg jedoch durchaus Potential. Atmosphärischer Art Rock mit Multiinstrumentalisten. Besonders die Querflötensequenzen der Leadsängerin haben mir gefallen, aber auch die Gesangseinlagen des begabten Schlagzeugers. Ich denke, es lohnt sich, die beiden Mädels und die drei Jungs im Auge zu behalten.
Nach einer kurzen Umbaupause betraten Mariusz Duda (vocal, bass/acoustic/electric guitar), Michał Łapaj (keyboards, hammond, theremin, backing vocal), Piotr Kozieradzki (drums) und Maciej Meller (guitars) die Bühne und ließen es mit Acid Rain gleich so richtig krachen.
Das Endzeitdrama "The Road" von Cormac McCarthy war u. a. Inspiration für Wasteland, das Album, das die Junx aus Polen während ihrer aktuellen Tour zu Gehör bringen. Heavy stuff und doch so schön, weil eben nicht nur die Apokalypse
"Acid Rain is pouring down
On the caravans of shadows
Once they used to be humans
Dying of too much choice"
im Vordergrund steht, sondern vielmehr Hoffnung und vor allem Liebe, so wie im gleichnamigen Film von Viggo Mortensen (Vater) und Kodi Smit-McPhee (Sohn) ungemein berührend dargestellt.
Aber nicht nur dieses postapokalyptische, sondern vor allem auch die Verarbeitung sehr persönlicher Dramen haben das Album Wasteland inspiriert. Schicksalsschläge im Jahr 2016 hätten die Band Riverside beinahe zerstört, als ihr Gitarrist Piotr Grudziński mit nur 40 Jahren überraschend verstarb. Im Verlauf dieses Jahres verlor Mariusz Duda außerdem seinen Vater sowie einen nahen Freund, der Selbstmord begangen hatte sowie noch einen anderen ihm nahestehenden Menschen.
Nach einer einjährigen Pause beschloss die Band, als Trio weiterzumachen und so haben Ines und ich sie mit ihrem Gast-Gitarristen Maciej Meller im Frühjahr 2017 in Berlin erlebt. Sehr ernst, sehr intensiv, sehr gut.
Letztes Jahr im Oktober präsentierten sie in derselben Besetzung Wasteland in Berlin. Die Polen hatten sich offensichtlich gefangen. Sie wirkten gefestigt und hatten sich nach eigenen Angaben zu einer anderen Band weiterentwickelt, lieferten Progressive Rock vom Feinsten und zogen mich in ihren Bann, so dass ich sie unbedingt noch einmal erleben wollte.
Der folgende Song beschreibt die innige Beziehung zwischen Vater und Sohn in "The Road":
Während des Gigs in Zwolle zeigten sich Riverside ausgesprochen heiter und gelassen. Als der Drummer Piotr hinter seiner Schießbude versehentlich das Line-up nicht ganz beachtete und einen falschen Song anstimmte, ertönte schallendes Gelächter, bevor es im Programm weiterging. Darüber hinaus machte sich Mariusz ein klein wenig über die Zurückhaltung der Niederländer lustig, die nur höflich klatschen würden, anstatt ordentlich abzurocken. Das änderte sich im Verlauf jedoch grundlegend, denn das Hedon kochte und nahezu jeder verlor sich in den unendlich langen progressiven Rockhymnen, um schließlich fast schon enttäuscht zu sein, wenn wieder ein Song zu Ende ging.
Die Emotionalität und Musikalität von Mariusz Duda, Feingeist und prog-rockige Rampensau, hat mich wieder einmal bei den lauten Stücken mitgerissen und bei den leisen, gefühlvollen Songs zutiefst berührt.
Wie im Oktober war auch dieses Mal wieder der Geist von Piotr Grudziński gegenwärtig. Immerhin zählte laut Mariusz der Ausnahme-Gitarrist Maciej dieses Mal mit zur Familie und ich hoffe, dass er eines Tages auch offiziell zur Band gehören wird. Sein Spiel ist ein anderes als das von Grudzień - dennoch ihm ebenbürtig. Und so wurde Grudzień das letzte Lied des Abends gewidmet - River Down Below.
Mariusz Duda schrieb dazu auf der Bandseite:
"If the band continue to exist, the memory of Grudzień will survive", said one of my friends when I thought it was the end of RIVERSIDE. So there had to be a track on the new album that would refer to it. Not literally. It's still a story about the world in an alternative future, but you can find that reference between the lines.
The lyrics tell the story of a wanderer, who accidentally finds the grave of one of those who didn't manage to survive the apocalypse. He hears a voice, "take me from here, take me to the river, that's where I belong..."
Nach dem Konzert war ich aber sowas von durch. Vor allem meine Füße streikten und so war ich froh und glücklich, dass ich nur fünf Minuten bis zu meinem Hotel laufen musste.
Die Nacht war grausam. Zunächst schmerzten meine Füße und Knie höllisch und beklagten sich bitterlich bei mir: "Alte, was hottest du mit deinem 54jährigen Kadaver dermaßen ab, da machen wir nicht mehr mit, wir steigen aus!" Als ich dann nach einem ordentlichen Ibuprofen-Bolus gegen 03:00 Uhr endlich pennte, bekam ich Horrorkrämpfe in den Beinen und Zehen. Scheißegal, das war dieses Erlebnis allemal wert!
Was bleibt, ist nicht nur das Fotoalbum unten - vielmehr ist es das unbeschreibliche Gefühl, dabei gewesen zu sein, die Musik, die Künstler nicht nur gehört und gesehen, sondern unter Gleichgesinnten intensiv gefühlt zu haben.
Die Sonne weckte mich am Mittwochmorgen schon recht früh und so sammelte ich leise jammernd meine untreuen Gliedmaßen wieder ein und stellte alle erst einmal nebeneinander unter die Dusche. Nach dieser belebenden Erfrischung schien doch noch Hoffnung zu bestehen... Das Hotelfrühstück war nicht besonders, aber es gab Hektoliter starken Kaffees, die mich reanimierten. Danach packte ich schnell und ließ mich von der strahlenden Sonne nach draußen locken. Es galt, Zwolle im Frühling zu genießen! Also latschte ich meine Füße noch ein bisschen platter und ärgerte mich auch nur ein wenig darüber, dass ich mein Köfferchen am Bahnhof wegen eines Schließfachstreiks nicht loswerden konnte und ich den langen Weg dorthin umsonst gehumpelt war.
Eine sehr entspannte Grundstimmung, Heiterkeit und Gelassenheit, hübsche kleine Geschäfte, wunderschönes Wetter, der eine oder andere Coffie, Neugier und natürlich immer wieder een klein beetje vriendelijk Smalltalk charakterisierten diese letzten Stunden niederländischer Gastfreundschaft.
Wir befinden uns schon seit zähen Stunden auf Schleichfahrt, damit uns die feindlichen Schiffe nicht hören. Nach der Fliegerbombe noch ein Torpedo würde den heutigen Tauchgang womöglich verzögern. Der Kaleu studiert verwirrt die Seekarten und ich dekompensiere kognitiv und fabuliere ins Logbuch...
Ich hätte in Zwolle bleiben sollen... kaum in Deutschland angekommen, funktionierte wegen einer Fliegerbombe überhaupt nichts mehr, siehe oben. Die Reise im niederländischen IC von Zwolle nach Arnhem war dagegen noch richtig abgefahren, obwohl ich meiner Zugbindung zum Trotz einfach einen früheren Zug genommen hatte, weil ich müde war, sitzen wollte und es nach Regen aussah. Am Vortag hatte schließlich auch niemand kontrolliert. Nicht so auf der Rückfahrt! In Deventer stand plötzlich ein dynamischer Schaffner neben mir, der mein Ticket sehen wollte. Peinlich... ich reichte es ihm und der Scanner blinkte rot und sagte NOPE! Der Schaffner grinste, gab mir die die Fahrkarte zurück und meinte "Is goed!" Klasse!!!
Unser Aufenthalt in Deutschland nahm schon bis zur Genehmigung der Weiterfahrt via NL viel Zeit in Anspruch, aber richtig langweilig wurde die Rückfahrt, als wir im Schneckentempo durch die Niederlande krochen. Links endlose Weiten eines nassen Ackers, rechts noch unendlichere nasse Weiten Ackerland, jedoch kein feindliches U-Boot in Sicht. Zwischendurch heiterte man mich noch mit der Auskunft, dass der Zug in Köln verenden würde, auf...
Dort wurde es noch richtig spannend mit dem Umsteigen. Im Schweinsgalopp stürzte ich mich meinen eingeschlafenen Gliedmaßen zum Trotz hurtig in den ICE Richtung Frankfurt. Mit satten drei Stunden Verspätung kam ich hier sogar an und konnte meine beiden Katermonsterchen gerade noch rechtzeitig vor dem sicheren Hungertod retten.
Es war eine unglaublich gute und wichtige Erfahrung für mich, wieder einmal einen solchen "Egotrip" zu wagen und diesen so sehr genießen zu können, denn am Dienstagmorgen nach dem Aufwachen wäre ich am liebsten zu Hause in meiner Sofaecke geblieben. Meine depressive Antriebslosigkeit hatte mich schwer im Griff und gaukelte mir vor, dass zwei freie Tage zu Hause viel erholsamer und sicherer wären, zumal ich noch nicht einmal gepackt hatte.
Nur gut, dass ich allen Bedenken zum Trotz meine Komfortzone dann doch noch verlassen konnte. Was wäre mir sonst alles entgangen...