Als bekennende Kunstbanausin halte ich mich weitestgehend von Museen fern. Anno 1986 waren meine Freundinnen entsetzt, als ich mich im Pariser Louvre furchtbar langweilte und anstatt die Mona Lisa ehrfürchtig zu betrachten, die Größe ihres Konterfeis für sehr übersichtlich hielt. Vier Jahre zuvor hatte mir der Prado in Madrid schon besser gefallen, aber das lag wohl eher an der Begleitung meines sehr unterhaltsamen Noch-immer-Brieffreunds Miguel. Um das Städel hier gleich um die Ecke pflege ich große Bögen zu machen, da meine bisherigen Besuche dieser Institution erzwungen und öde waren.
Sonntag früh, am 6. November 2022, eilte ich jedoch aus freien Stücken, sehr gespannt und voller Vorfreude kurz nach dem Aufstehen in die Kunsthalle Schirn, denn schon die Ankündigungen der Ausstellung im Hochsommer hatten mich sehr neugierig gemacht, als ich meinen wunden Ole Cranon aka bursitischen Ellenbogen täglich an der Schirn vorbei zu ekligen Wundrevisionen in die Chirurgische Praxis mitten in der Stadt tragen musste.
Marc Chagall fasziniert mich bereits seit meiner Schulzeit. Zunächst widerwillig, dann mit immer größerem Interesse spazierte ich damals in der Mittelstufe zur Erstellung eines Referats in die Stadtbücherei, um kluge, nicht entleihbare Bücher über Chagall zu wälzen und Informationen zu sammeln. Seitdem schätze ich ihn sehr. Hinzu kommt, dass ich jahrelang den Kunstdruck "Le Violiniste Bleu" bei meiner Freundin Trudi bewundert hatte. Seit ihrem Tod im Juli 2011 belebt dieses Bild nun eine meiner Wände.
Ich hatte mich eingehend auf die Welt im Aufruhr vorbereitet und wusste, dass mich eine bislang nicht nur mir unbekannte, sehr düstere Seite Chagalls erwarten würde. Gerade dieser Aspekt beeindruckte mich sehr, ging es laut Feuilleton der FAZ vom 04.11.2022 doch um "Chagalls weniger bekannte Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette zunehmend verdunkelt". Also keine "folkloristische Gemütlichkeit" in heiteren Blautönen, nicht nur die viel zu oft betrachteten üblichen Kalenderbilder. In der FAZ hieß es weiter:
„Dass Chagalls politische Bilder viel enger an seine jeweiligen biografischen Kontexte gekoppelt sind, namentlich an die am eigenen Leib erfahrene Todesbedrohung und die wiederholte Vertreibung, das verdeutlicht zu haben ist kein geringes Verdienst der Frankfurter Schau.
...
Der Maler war erheblich facettenreicher und politischer als angenommen. Das Elend von Vertreibung und Verlust der Heimat, von Pogromen und Holocaust spielt auf nahezu jedem der Bilder von 1930 bis 1948 – der Spanne der Schau – eine maßgebliche Rolle, wenn man die verborgene Ikonographie, wie in der Schirn durch die ausgestellten Zwischenstufen ermöglicht, zu "lesen" lernt."
Zu dieser Deutung von Motiven später mehr.
Der komplette FAZ-Artikel ist hier verlinkt.
Nun aber zu Chagalls Werken in der Schirn. Fotos der Bilder, die ich nicht selbst gemacht habe, sind mit © gekennzeichnet.
Bereits das erste Bild der Ausstellung - Einsamkeit - traf mich mitten ins Herz. So intensiv verkörpert der Jude seine Verlassenheit; sein gesenkter, todtrauriger Blick, der zum Schutz um ihn gehüllte Gebetsschal, die Thora in seinem linken Arm geborgen, unterstreichen diese.
Ich hatte dieses Gemälde fast für mich allein, konnte ganz nah vor ihm stehen, Chagalls Pinselstriche verfolgen, mir vorstellen, wie er vor der Leinwand gestanden und ihr mit dem Pinsel seine Gefühle anvertraut hatte.
Für diese Ausstellung werden (am Wochenende limitierte) Zeittickets in halbstündlichen Abständen angeboten. Der Besucher darf so lange bleiben, wie er möchte. Ich hatte gleich den ersten Termin an jenem Sonntagmorgen gebucht und mein großes Glück war, dass aufgrund der Kälte draußen fast alle 10 Uhr-Besucher zunächst an der Garderobe in der Schlange standen. So war ich an diesem Sonntag eine der ersten, die zu den Gemälden durfte. Und hatte sie weitestgehend für mich allein. Welch ein Geschenk für mich GedrEnge verabscheuende Soziophobe.
Im Gegensatz zu dem Menschen an ihrer Seite wirkt die weiße Kuh unbefangen. Sie wendet Gewalt und Schrecken den Rücken zu und betrachtet den verzweifelten Rabbiner voller Vertrauen, während das dritte unschuldig weiß anmutende Element dieses Bildes, der Engel, über den Rauchsäulen der Stadt (Witebsk, Chagalls Heimatstadt), schwebt. Um den Engel herum ist der Himmel aufgehellt, jedoch zeigt sein eher neutraler Gesichtsausdruck weder Gefühl noch Absichten. Fliegt er davon, flieht er vor dem sich ankündigenden Schrecken, ahnt er, was passieren wird? Immerhin ist er da und hat den einsamen Juden (noch) nicht allein gelassen.
Auch die Geige, die zwischen Mensch und Tier liegt, ist ein Symbol des Trostes.
Zu Chagalls Symbolik oder auch Ikonographie habe ich folgende Deutungen gefunden:
Witebsk, die Stadt ist ein Symbol für die verlorene Heimat, ein Sehnsuchtsort (Chagall hat Witebsk 1922 verlassen und ist nie wieder zurückgekehrt).
Jesus, der Gekreuzigte als zentrales Sinnbild für das Leiden der europäischen Jüdinnen und Juden. Jesus wird durch den jüdischen Gebetsschal Tallit sowie die Gebetsriemen Tefillin eindeutig als Jude gekennzeichnet.
Die Geige repräsentiert Trost und Erinnerung an Chagalls Kindheit. Zudem ist sie ein wichtiges Instrument in der jüdischen Kultur Osteuropas, insbesondere für Jüdinnen und Juden, die ihre Heimat verlassen mussten.
Kuh und Ziege bedeuten Heimat und Geborgenheit.
Der Gebetsmantel (Tallit) bietet ebenfalls Schutz und Geborgenheit.
Die Madonna mit Kind strahlt Glück und Zuversicht aus und sorgt - wie im Gemälde Exodus - für einen starken Kontrast zu der zentral im Bild liegenden nackten toten Frau.
FAZ:
Auf dem Hochformat „Exodus“ von 1948 tauchen erneut der Gekreuzigte und der Rabbi auf, der hier die gerettete Thora in Richtung der Mutter mit Kind auf dem Schoß trägt; im Hintergrund hingegen liegt eine Mutter mit einem Säugling auf der Brust nackt (Chagalls Metapher für die Märtyrer des Holocaust) und leblos auf der Straße und versinken zu Seiten eines hoffnungslos überfüllten Flüchtlingsschiffes zahlreiche Nicht-Gerettete in den Fluten.
Auch dieses Bild zog mich intensiv in seinen Bann. Krieg, Rassismus, Antisemitismus, Nationalsozialismus, Flüchtlingsströme, Hass, Gewalt, Intoleranz - damals wie heute nicht nur Schlagzeilen, sondern brutale Wirklichkeit. Wobei das alles heute bei weitem desaströser ist, denn wir, die Homo sapiens (WAS wissen wir...) haben aus der von Chagall so eindrucksvoll traurig auf Leinwand gebannten Geschichte nichts gelernt, sondern streben offensichtlich danach, die grausamen Schlagworte von damals noch perfekter, perfider in die Tat umzusetzen, als es im letzten Jahrhundert geschehen ist. Aus dem angestrebten NIE WIEDER scheint ein JETZT ERST RECHT geworden zu sein.
Unsere Welt ist inzwischen nicht nur im Aufruhr, sondern steht am Abgrund.
Wir befinden uns damals wie heute im Krieg.
Krieg (1943)
Neben den vielen Werken zum damaligen Zeitgeschehen zeigt die Ausstellung auch einige Bilder zu Moische Chazkelewitsch Schagalows (das ist Chagalls Geburtsname) persönlicher Geschichte. Insbesondere zwei Bilder in gedämpften Farben berühren mich besonders, in deren Mittelpunkt Marc Chagalls Ehefrau Bella Rosenfeld Chagall, eine Schriftstellerin, steht. Die beiden hatten 1915 geheiratet und lebten in Paris. Bella war für Chagall Muse und Heimat zugleich. Ein Jahr später kam ihre Tochter Ida zur Welt. Gemeinsam floh die Familie 1941 vor dem Nationalsozialismus nach New York. Während der Sommerferien 1944 erkrankte Bella Chagall an einem Virusinfekt und verstarb nur wenige Wochen später daran. Chagall fiel in tiefe Trauer und konnte erst neun Monate später wieder malen. Er zerschnitt sein Werk "Zirkusleute" in zwei Hälften. Aus der linken entstand "Um sie herum", aus der rechten "Die Lichter der Hochzeit" In beiden spiegeln sich Trauer um Bella, Liebe und Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit.
Beide Bilder zeigen eine stille Melancholie. Sowohl das in früheren Werken so leuchtende Blau als auch die anderen Farben sind gedämpft. In "Um sie herum" hat Chagall die Traumblase Witebsk sowie seine geliebte Bella als seine Heimat verwurzelt.
In beiden Bildern scheinen die Lichter aus der Ferne zu kommen, sie entsprechen Chagalls Erinnerungen an eine glückliche Zeit.
„In der Kunst wie im Leben ist alles möglich, wenn es auf Liebe gegründet ist.“
Marc Chagall
Viele der Bilder haben mich angesprochen. Angesprochen nicht nur im Sinne von gefallen, nein, ich hatte das Gefühl, dass sie mir laut und deutlich etwas zu sagen hatten. Teilweise haben sie mich zurückgerufen, wenn ich zu schnell weiterging, baten mich, bei ihnen zu verweilen, noch einmal genauer hinzusehen. So etwas hatte ich bisher nur im Genozid-Museum von Tsitsernakaberd in Jerewan zum Gedenken der Opfer des Völkermords an den Armeniern 1915 erlebt, wo das längere Verweilen aufgrund des "fünf Minuten sind genug" unserer ehrgeizigen Reiseleiterin leider nicht möglich war.
Viele von Chagalls Bildern tun mir weh, auch wenn oder gerade weil sie mir in ihrer Intensität gefallen, andere mochte ich dagegen nicht. Bei den schmerzenden Gemälden jedoch war fast immer auch ein Hoffnungsschimmer zu sehen, so wie die Tiere oder auch die Madonna mit Kind, die mir gezeigt haben, dass Chagall allem Erlittenen zum Trotz die Hoffnung und den Glauben an das Gute nicht verloren hatte.
Vieles in den letzten Monaten Gelesene und Gehörte fügte sich für mich zu einem stimmigen, bewegenden Ganzen zusammen. Wie das Rilke-Gedicht, das mir beim Betrachten von "Der Alte und das Zicklein" wieder in den Sinn kam.
Wir sind ganz angstallein,
haben nur an einander Halt,
jedes Wort wird wie ein Wald
vor unserm Wandern sein.
Unser Wille ist nur der Wind,
der uns drängt und dreht;
weil wir selber die Sehnsucht sind,
die in Blüten steht.
Als ganz besonders passend zur Ausstellung und meinen Gedanken dazu empfinde ich das Lied "Asma Asmáton", das Lied der Lieder, geschrieben und komponiert von Mikis Theodorakis und gesungen von Maria Farantouri, das mir Ines wenige Wochen zuvor auf Kreta wieder näher gebracht hat und mit dem ich mich seitdem beschäftige.
Ásma asmáton (Άσμα ασμάτων):
"Wunderschön ist meine Liebste
In ihrem Alltagskleid,
Mit einem Kamm im Haar.
Keiner wusste, dass sie so schön ist.
Ihr Mädchen aus Auschwitz, Ihr Mädchen aus Dachau,
Habt ihr meine Liebste geseh'n?
Wir sahen sie auf einer langen Reise,
Sie trug ihr Kleid nicht mehr,
Auch keinen Kamm im Haar. ...
Auf einem zugigen Platz sah’n wir sie,
Mit einer Nummer auf dem nackten Arm, |
Den Davidstern geheftet an ihr Hemd."
Es beeindruckt mich zutiefst, dass Chagall trotz allem, was ihm "von Christen" angetan wurde, nicht nur seine Toleranz bewahrt, sondern nicht aufgehört hat, Liebe zu leben.
Gäbe es mehr Menschen wie ihn, gehörten diese zu den Mächtigen der Welt, stünde unsere Welt heute nicht am Abgrund.
Quellen bzw. interessante Links
Digitorial
https://schirn.de/chagall/digitorial/
Audioguide zur Austellung
https://chagall-audioguide.schirn.de/entity/Audioguide.html
Marc Chagalls Geschichte auf den Punkt gebracht:
https://www.museum-im-schafstall.de/marc-chagall.a35.htm