Bäck to wörk nach knapp 28 unglaublich intensiven Stunden in Hamburg sowie insgesamt 10 Stunden in knackig vollen ICEs. Nach zwei Nächten mit nur sehr wenig Schlaf dank Kapriolen meines neuen kontinuierlichen Blutzuckermessdexcomikers war am Sonntagabend nicht mehr viel von mir geschweige denn meiner Vigilanz übrig, so dass ich nach einer schnellen Katerfütterung und einem längeren Telefonat mit Ines überglücklich in mein eigenes Bettchen fiel und so gut geschlafen habe wie schon lange nicht mehr.
Dieses Unterweks war schon sehr strapaziös. Dennoch möchte ich meinen kurzen Reißaus vom Alltag um nichts in der Welt missen. Mein Aufenthalt in Hamburg kommt mir im Nachhinein sehr viel länger vor, so beeindruckend war das Erlebte. Und damit meine ich nicht nur das ungewohnte, unsagbar schöne Sommerwetter, die Stunden am und auf dem Wasser, die hanseatische Stimmung in der Speicherstadt. Nein. Ich Kulturbanausin war im Theater, im Deutschen SchauSpielHaus Hamburg. „Das Schloss“ von Franz Kafka musste es sein in einer gelungenen Inszenierung von Viktor Bodo.
Diese Aufführung am Samstagabend war ganz, ganz großes Theater. Skurril, grotesk, ABSURD in Vollendung. Ungeachtet der sehr vielen, sehr unterschiedlichen Interpretationen von Franz Kafkas Romanfragment ist in meinen Augen das zentrale Thema der unbedingte Gehorsam einer autoritären Bürokratie gegenüber das Lebensziel der Dorfbevölkerung. Auferlegt von einem vermutlich real nicht existierenden Schloss. Für die Bestimmungen und Zwänge dieser Bürokratie gibt es keine Grundlage, sie existieren nur um ihrer selbst willen und ergeben keinen Sinn. Überwacht jemand die Einhaltung dieser bürokratischen Postulationen, werden Nichtbeachtung und Ungehorsam überhaupt bestraft? Eher nicht, denn dieses Konstrukt ist ein Hirngespinst, genährt von der Tatsache, dass sich die eingeschüchterten Dorfbewohner der Obrigkeit Schloss (inklusive des Grafen Westwest und des hohen Beamten Klamm, beide sind lediglich in Schilderungen präsent) bedingungslos unterworfen haben. Einer surrealen Autorität, die daher nicht existiert, aber dennoch ihre tatsächlich lebenden Mittelsmänner in der Dorfbevölkerung hat und für Angst und Schrecken sorgt.
Der nach langer Reise gerade erst angekommene Protagonist K., ein Landvermesser, kämpft zunächst um seine Aufenthaltsgenehmigung im Dorf. Sein Wunsch ist es, dass sein vom Grafen Westwest übermittelter Auftrag bestätigt wird und Sinn ergibt. Beides wird im verwehrt, stattdessen schlagen ihm Argwohn, Diskriminierung und Fremdenhass entgegen. Die der imaginären Obrigkeit hörigen Dorfbewohner sind Gefangene einer nicht greifbaren bedrohlichen Hierarchie, sie befinden sich im wahrsten Sinne des Wortes hinter Schloss und Riegel. Eingesperrt zwischen zu hohen Tellerrändern verachten sie Fremde, halten sich an ihrem bekannten Übel fest und bekämpfen vehement jegliches Freiheitsstreben von Eindringlingen.
K. möchte in seinem Beruf arbeiten und sich in die Dorfgemeinschaft integrieren, schlicht und ergreifend dazu gehören. Die Sehnsucht nach Wertschätzung lässt seinen Darsteller Carlo Ljubek über zwei Stunden durch das monströse Baustellengerüst auf der Bühne seiner Daseinsberechtigung hinterherrennen, klettern, turnen, tanzen. Das Gesuchte lässt sich nicht finden, vielmehr verliert K. sich selbst.
"In seiner gekonnt aufwendigen Inszenierung macht Viktor Bodo „Das Schloss“ zu einer famos breitwandigen Studie über das Tollhaus einer Zivilisation, die vergessen hat, wozu sie da ist. Er bringt uns Franz Kafkas Werk näher, als es uns lieb sein kann." (faz net).
Gerade der Bezug zu dieser unserer Realität machte das Stück trotz aller witzigen Einlagen (wobei mir das Lachen nicht nur einmal im Halse stecken blieb) für mich beklemmend. K.s zunehmende Erschöpfung, die hängenden Schultern, wachsende Hoffnungslosigkeit, fast schon Hysterie in seiner Stimme, seine immer wieder scheiternden Versuche, endlich dazuzugehören, akzeptiert zu werden, haben mich zutiefst bewegt. Carlo Ljubek hat K. grandios dargestellt. Er IST K., der über die Kondition eines geschmeidigen Zehnkämpfers zu verfügen scheint und die ganze Zeit auf der Bühne präsent ist. Seine Schauspielkollegen haben mich ebenfalls sehr beeindruckt. Das gesamte Ensemble vermochte die ständig zwischen dummdreist, hoffnungslos, aberwitzig-komisch und bedrohlich-angstverzerrt wechselnden Gefühle absolut glaubhaft auszudrücken.
Für mich vergingen die zwei Stunden, zehn Minuten in der sehr engen ersten Reihe viel zu schnell. Dieser Platz war ein Geschenk, denn neben mir saß die freundliche „Souffleuse“ mit dem Buch, einer kleinen Taschenlampe und einem Mikrophon. Ich hätte die Geschichte mitlesen können, habe ihre Irritation mitbekommen, als die Schauspieler mal eben die Reihenfolge der Sätze eines Dialoges geändert hatten, bevor sie sich wieder an das Buch hielten. Gleich vor mir unterstrichen vier Musiker mit Geige, Kontrabass, Schlagzeug und Klavier die Dramatik des Stückes gekonnt, was an einen Stummfilm erinnerte, insbesondere, als sich ein weißer Vorhang vor der Bühne senkte und das Geschehen auf der Bühne als Schattenspiel im Gittergerüst sichtbar wurde.
Ich war seit Jahrzehnten nicht mehr im Theater, um mir ein „Stück“ anzusehen. Um so bewusster wurde mir „im Schloss“, wie intensiv, wie unmittelbar ein gelungenes Theaterstück sein kann. Dieser Abend im SchauSpielHaus hat mich überwältigt und wird mich noch lange beschäftigen.
Chapeau!
Die Nacht war dann aber leider nicht zum Schlafen da, obwohl ich müde genug war. Zum einen traf das Hotel nicht ganz meine Erwartungen, zum anderen unterhielt mich mein Dexcomiker mit nicht zutreffenden Warnungen vor schwersten Unterzuckerungen, die ich immer wieder mit altmodischem Fingerstechen widerlegen musste - in der Hoffnung, dass sich der kontinuierliche Gewebezuckersensor wieder berappeln würde. Tat der aber mitnichten.
Zum Glück hatte ich noch einen funktionierenden Sensor dabei, befürchtete aber, wegen meiner bleiernen Müdigkeit gar nichts mehr unternehmen zu können. Aber da hatte ich die Rechnung ohne den absolut genialen Frühstückskaffee des Hotels gemacht. Ich infundierte mehrere Hektoliter und zog schon um kurz nach halb 8 fröhlich los Richtung Schlumpf-Barmbek sprich Landungsbrücken. Schließlich wollten Hoppi und ich dringend! ans Wasser, um den Hafenkraken zu beobachten, der meinem mutigen Mittelalterbären Nase Jahre zuvor zum Glück nicht ganz zu Tode erschreckt hatte.