Kurz entschlossen hatte ich mir am letzten Samstag eine Eintrittskarte der ganz anderen Art gekauft. Gerade im Alter ist es wichtig, neugierig zu sein, den ... hochzukriegen, um seinen Horizont zu erweitern und sich auf ganz neue Erfahrungen einzulassen.
Die Anreise zum Viva Puccini-Gig in Mannheim in der feierabendlichen Konservenbüchse = Regionalexpress ging mir erheblich auf den Senkel, zumal sich meine offensichtlich wichtige Gegenüberin über die Länge meiner Beine beschwerte, so dass ich meine Baken noch mehr zusammenfalten musste. Dabei hatte sich die Schnepfe dahin gequetscht und nicht umgekehrt.
Im Rosengarten zu Mannheim wurde mein print@home Ticket mit spitzen Fingern inspiziert, genau durchgelesen, schließlich akzeptiert und dann höchst professionell mit einem schiefen Einriss entwertet. Korrekte Galagäste hatten anständige Eintrittskarten oder zumindest Papp-Tickets vom Raubritter eventim.
Die richtigen Opernbesucher, die das Ambiente ausmachten (und es in meiner Wahrnehmung beeinträchtigten) wirkten gutsituiert und gaben sich vornehm, was sie an schlechtem Benehmen aber nicht hinderte. Halblaute Unterhaltungen während der Darbietungen, ständiges Handydaddeln, störendes Filmen... 'Zwangsverheiratet' kam mir angesichts einiger Paare in den Sinn - "wir führen seit 42 Jahren eine harmonische Ehe, aber am liebsten würde ich den schmatzenden Gatten mit der Kuchengabel lynchen". Gesicht zur Faust geballt und Klappmesser im Abendtäschchen…
Allerdings habe ich auch ganz süße, richtig alte Paare gesehen, die sich während der Platzsuche liebevoll umeinander bemühten. Als ich kurz vor Konzertbeginn die Location samt Bühne fotografierte, deutete eine alte Dame auf mein Handy und meinte "Ach, das habe ich vor lauter Aufregung ganz vergessen.", und strahlte nur so vor Vorfreude. Die Mumiendichte war schon sehr hoch. Das sollte sich später noch rächen. I felt younger than ever.
Meine Gewandung schwurze Bootcuthose, schwurzes Shirt mit hübschen langen Spitzenärmeln und Bernsteinklönk zum Auflockern war schon OK. Andere dagegen sahen verboten aus wie der Typ um die 63einhalb: gewollt und nicht gekonnter jugendlicher Touch mit schwarzem Jackett, weißem Hemd, schwarzer Fliege und einer aufwendig abgewrackten greulichen Destroyed Jeans Marke RBE (rotten but expensive).
Während der Pause fragte ich mich angesichts mancher Outfitte, ob die Leutz das wirklich ernst meinten, wie z. B. eine Frau ca. Mitte fuffzich im kniekurzen knallpinken Lurexglitterkleid mit rosa Stiefelchen. Eingangs hatte ich schon zwei Damen fortgeschrittenen Alters in sehr bunter Kleidung bewundert. Die eine trug einen knallgrünen Rock, eine sehr farbenfrohe geblümte Bluse und dazu als Stilbruch knallgrüne ausgelatschte Sneaker. Beide trugen edel verpackte Geschenke in den Händen, mit denen sie mit Sicherheit ihren Heldentenor nach dem trolfigsten Encore zu beglücken suchten.
Schluss jetzt mit den Äußerlichkeiten, kommen wir zum Inhaltlichen. Ich hatte mich kürzlich angehörts von Jonas Kaufmanns Stimme in der Hessenschau auf youtube verlaufen und festgestellt, dass nicht nur diese Stimme geil ist, sondern dass der Tenor es zudem vermag, mich mit seinen intensiven darstellerischen Fähigkeiten zu berühren, zu bewegen. Er fühlt und lebt seine Rollen. So etwas verdient Aufmerksamkeit und so vertiefte ich Kulturbanausin mich in die italienische Opernwelt. Besonders Puccini hatte es mir angetan. Tosca, Turandot – wow, da geht was ab. Herz, Schmerz, Drama, viel Blut und hinterher wird auch gern mal gestorben. Klingt albern, aber für mich hat diese gefühlvolle Dramatik was. Rein zufällig wurde just in dieser Zeit Tosca im Rahmen von "Oper für alle" gestreamt. Gemütlich im Schlafanzug, Kater auf dem Schoß, mit ordentlich zu Futtern und zu Trinken hing ich an Herrn Kaufmanns Lippen und schmolz bei "E lucevan le stelle" nur so dahin.
Gut, gestern Abend im Rosengarten Mannheim ging es förmlicher zu. Ich hatte mich so sehr gefreut, live und in Farbe noch intensiver mitfühlen zu können als zu Hause vor meinem Monitor. Aber dieses Gefühl wollte sich nicht einstellen, zu sehr lenkte mich meine Umgebung ab. Die gekonnten Darbietungen von Valeria Sepe in ihrem wunderschönen rotorangen Abendkleid und Jonas Kaufmanns in einen Frack gewandete Stimme waren grandios. Dennoch hatte ich zunekst das Gefühl, dass die Tontechniker (gibt es sowas überhaupt in der Oper - es war kein Mischpult zu sehen…?) den Lauterknopf bei den Singenden sträflich vernachlässigt hatten. Später wurde das besser. Vorher klang es jedoch ein paar Reihen hinter mir, als ob ein heftig hustendes Pferd mit Auswurf an Lungenentzündung verendete. Trotzdem fand ich die Musik und die Stimmen sehr schön, keinesfalls langweilig. Endlich, endlich hörte ich die ersten Klänge von "E lucevan le stelle" – aber nur orchestral und sehr laut. Bombastisch, aber wo war Herr Kaufmann? Hustete auch er nach gerade erst überstandenem Covid backstage? Ich fand das etwas seltsam, war enttäuscht, bis der Song noch einmal intoniert wurde. Dieses Mal sanft, leise, so wie ich es liebe. Jonas Kaufmann erschien, begann zu singen. Aber ich konnte mich nicht vertiefen, weil plötzlich eine Frau fünf, sechs Reihen vor mir mit wehenden langen Haaren rennend den Saal verließ. Ein akuter Flitzpfiffanfall? Nein, nicht sie litt unter Beschwerden, sondern kehrte mit der Theaterärztin zurück. Jonas sang unbeirrt weiter, Unruhe in Reihe 18. Offensichtlich war jemand kollabiert. Die Hälfte von Reihe 18 wurde vom Rettungssanitäter evakuiert, die Ärztin kümmerte sich um das Opfer, verließ dann wieder den Saal. Begleitpersonen schleppten den wieder halbwegs Lebendigen bis zur breiten Mittelreihe und legten ihn dort hin, bis er auf eine eilends reingerollte Trage gebettet und hinausgefahren wurde. Der Mann richtete sich auf, blickte sich verwirrt um – immerhin lebte er noch ein bisschen. "E lucevan le stelle" wurde in der Zwischenzeit trotzdem beendet. Danach regte Herr Kaufmann eine kurze Unterbrechung und mehr Licht an, woraufhin das Publikum applaudierte.
Nach zwei, drei weiteren gefühlvollen Arien folgte die Pause und danach wurde wiederum sehr schön gesungen. Ich war enttäuscht, denn es ging mir keineswegs so unter die Haut, wie ich es erhofft hatte. Nach dem obligatorischen Verteilen von Blumensträußen begannen die Encores. Und die hatten es in sich. "Non piangere, Liú" (Weine nicht, Liú) berührte mich zutiefst und "Nessun dorma mit dem finalen Vinceró" aus Turandot war phänomenal. Ich nutzte den langen Applaus, um staufrei den Rückzug anzutreten und schwänzte die sechste Zugabe.
Auf dem Weg zum Hauptbahnhof zwinkerte mir der Mond neben dem Wasserturm fröhlich zu. Es war sommerlich warm, die Menschen saßen um kurz vor 23 Uhr noch in den Straßencafés. Meine Rückfahrt wiederum in einem sehr pünktlichen Regionalexpress war angenehm unkomplizert, so dass ich um kurz vor 01:30 Uhr von zwei sehr verschlafenen Katerchen empfangen wurde, die sich offensichtlich freuten, dass ich sie nicht schon wieder wooooooooooochenlang allein gelassen hatte.
Dieses konzertante Operngala-Ereignis war schon schön, aber ich hätte doch lieber eine richtige Oper mit Bühnenbild, viel Herzschmerz, Drama und noch mehr Blut auf dem Hemd aussuchen sollen. Es war auf jeden Fall eine … interessante Erfahrung.
Ende November gibt es wieder richtig was auf die Ohren...