Max
Dunkel ist es, nass und kalt an diesem frühen Januarabend. Max läuft immer tiefer in den Wald hinein, schon längst hat er die Wege
verlassen. Tief herabhängendes Gestrüpp zerkratzt ihm Gesicht und Hände. Er blutet. Immer wieder stolpert er, fällt hin, tut sich noch mehr weh. Doch er gibt nicht auf, will sich müde laufen, und
vor allem nie wieder zurück in sein überheiztes, porentief reines, nahezu keimfreies Zuhause – die Putzfrau leistet unterstützt von Meister Proper und Sagrotan ganze Arbeit. Max friert erbärmlich
in seiner viel zu dünnen Jacke, absichtlich, denn das ist ein wichtiger Teil seines Plans, den er entschlossen durchziehen will. Über Kälte hat er viel gelesen – in seinem Lieblingsbuch über
einen Abenteurer, der allein zum Nordpol trampte. „Erfrieren ist ein angenehmer Tod, man schläft einfach ein und wacht nie wieder auf“ steht da drin. In Max Vorstellung muss es wunderschön sein,
sich einfach vertrauensvoll dem Schlaf hinzugeben, ohne Angst haben zu müssen, seinen Träumen plötzlich wieder entrissen zu werden. Müde ist er, unendlich erschöpft, weil er sich nachts fürchtet,
die Augen zu schließen und unvorbereitet und wehrlos jäh wieder geweckt zu werden, weil sein Vater betrunken in sein Bett steigt, um sich mit seinem kleinen Körper zu beschäftigen. Das zerreißt
ihn, Mal für Mal. Die Schmerzen hinterher sind ganz schlimm und Ekel lässt ihn würgen, wenn sein Vater, nachdem er Befriedigung gefunden hat, in seinem Bett zusammensackt und laut schnarcht.
Niemand darf es je erfahren, hat der Vater ihm eingebleut, sonst passiert etwas ganz Furchtbares. In solchen Nächten ist seine Mutter zufrieden – sie findet in ihrem luxuriösen Schlafzimmer ihre
wohlverdiente Ruhe, falls sie zugedröhnt mit Tabletten und Alkohol überhaupt noch etwas mitbekommt. „Nichts als Arbeit und Ärger mit Dir“, wird sie ihm morgens wieder vorwerfen, und dass er ihre
Figur versaut hätte, nur weil sie einmal die Pille vergaß. Max versteht das nicht, er wollte doch gar nicht auf diese Welt kommen...
Der Junge ist müde, seine Beine versagen ihren Dienst. Jetzt ist es bestimmt schon so spät, dass es den Eltern auffällt, dass er nicht da ist – zur Not müssen sie sich eben gegenseitig
beschimpfen, der Sündenbock ist unterwegs. Er sinkt in die Hocke und lehnt sich an einen nassen Holzstapel. Der Regen ist heftiger geworden, vielleicht wird er bald in Schnee übergehen. Max sehnt
sich nach Sam, er möchte ihn knuddeln, seinen einzigen Freund. Aber Sam ist nicht mehr für ihn da. Seine Mutter riss ihm den Teddy aus den Armen, weil er versehentlich Tinte auf den Teppich
gekleckst hatte, nur weil der Füller runtergefallen war... Max vergaß seine übliche Zurückhaltung und wollte seinen Teddy wiederhaben, er schrie und tobte und versuchte, ihn seiner Mutter zu
entreißen – vergeblich. Sie warf ihn einfach in den Müllschlucker, zog an ihrer Zigarette und sagte hämisch grinsend, dass das bakterienverseuchte Viech nun endlich verbrannt würde. Sie
quittierte seine verzweifelten Tränen mit höhnischem Gelächter. Demütigend war es, als sie abends dem Vater berichtete, dass er eine Heulsuse sei. Der Vater nannte ihn dann „mein kleines Mädchen“
und wollte wissen, ob er seine Hosen wieder gestrichen voll hätte.
Die Eltern streiten so viel, seltsam, dass sie sich überhaupt einmal nahe genug kommen konnten, um ihn zu zeugen. Wenn es darum geht, Max wegen seiner Nutzlosigkeit zu beschimpfen, sind sie sich
immer einig und halten zusammen, bilden eine Front, gegen die er machtlos ist. Fort von hier, nur fort, hat er so oft gedacht und sich davor gefürchtet. Die Angst ist sein ständiger Begleiter,
immer ist sie da, besonders, wenn er im Dunkeln (Licht aus – Tür zu!) schlafen soll, ohne einen beruhigenden Lichtschein neben der angelehnten Tür. Solange Sam bei ihm war, konnte er es gerade
noch ertragen. Doch Sam war Zeuge, er hatte mitangesehen, was spät nachts in seinem Bett passierte und für immer ein Geheimnis bleiben sollte – musste er deshalb sterben? Sam war so weich und
kuschelig, obwohl er stellenweise schon richtig strubbelig war vom vielen Schmusen und Tränenaufsaugen. Seine braunen Augen waren zwar nicht lebendig, aber sie blickten freundlich und nie so
eiskalt und voller Hass wie die seiner Mutter, die ihn ständig frösteln ließen. Überhaupt war ihm in der überheizten Wohnung immer kalt, er fror von innen.
Jetzt ist die Kälte mehr als greifbar, sie hat seinen ganzen zerschundenen Körper in Beschlag genommen. Max hofft inständig, dass das Thermometer noch schneller sinkt, er möchte nun endlich
erfrieren, weil ihm alles weh tut und er sich so sehr fürchtet. Hier im Wald gibt es bestimmt hungrige Tiere, die nichts gegen ein neunjähriges wehrloses Opfer einzuwenden haben.
Er kauert sich zusammen und macht sich ganz, ganz klein, genauso wie zu Hause, wo er so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten wollte. ‚Unauffällig sein’ war seine Devise, um keinen Zorn zu
provozieren. Schlimm war es, als seine Mutter ihn einmal mit ihren Oropax in seinen Ohren erwischte – er hatte ihr schrilles Keifen nicht mehr ertragen können und wollte sich vor dem Geschrei
schützen. Das setzte eine Tracht Prügel, weil er ja mal wieder nicht hören wollte – und so einer muss bekanntlich fühlen.
In solchen Momenten zieht Max sich in seine eigene kleine Welt zurück, knipst die Wirklichkeit einfach aus und lässt seine Phantasie spielen. Sie zeichnet mit zarten Pastellfarben eine
harmonische Umgebung mit vielen lieben Tieren und lustigen Kobolden, die ihn necken, um sich dann mit ihm zu freuen – hier wird er nicht ausgelacht so wie zu Hause oder in der Schule, wo er ein
Einzelgänger ist, der nie Kinder mit nach Hause bringen darf. In seiner Welt darf er tun, was ihm Spaß macht, er singt und spielt und wenn er müde ist, kocht ihm die dicke weiche Fee ein
richtiges Mittagessen, anstatt ihm nur irgendwelchen Fertigfraß in die Mikrowelle zu schieben. Die Eltern gehen abends oft in Feinschmecker-Restaurants, wohin sie ihn aber nie mitnehmen, weil er
ja kleckert und das zu teuer würde. Seine dicke Lieblingsfee hört ihm zu, wenn er ihr erzählt, was er erlebt hat und kommentiert seine Erlebnisse mit freundlichen, liebevollen Worten, die er
aufsaugt wie ein vertrockneter Schwamm. In seinem Märchenland ist Max ein mutiger Held, der sich gegen alle wehrt, die ihm etwas Böses wollen und der die Schwächeren beschützt – ach Sam, denkt
er, hätte ich dich doch retten können.
Max fallen immer wieder die Augen zu – doch er findet noch keine Ruhe, es knackt und knirscht überall viel zu verdächtig. Max bemüht sich nach Kräften, wieder in seine Traumwelt einzutauchen. Die
Zeit vergeht, es wird ruhiger um ihn herum, der Schnee fällt lautlos. Max stellt sich vor, wie er seinen armen Teddy vor den Flammen der Müllverbrennung retten kann und die kleinen Kobolde voller
Ehrfurcht seine versengten blonden Haare betrachten. Alles verwebt sich ineinander, Raum und Zeit verschwimmen. Die eiskalten Schneeflocken löschen den brennenden Müll und Wärme umgibt den
kleinen zusammengesunkenen Max. Er hält sich selbst umklammert und denkt, sein Sam wäre wieder bei ihm, würde ihn wärmen und beschützen. Max schläft ein....