Zug nach Rathaus Spandau

 

 

 

"Wir fahren alle im gleichen Zug, doch keiner weiß wie weit"... (Erich Kästner)


In ein muffiges Abteil gepfercht, buntgewürfelt auf engstem Raum - freiwillig hätte sich diese Menschengruppe kaum zusammengesetzt. Blicke wandern umher, treffen sich für Sekundenbruchteile, um einander dann schnellstmöglich wieder auszuweichen. Bloß kein Interesse an seinem Gegenüber zeigen, eine gleichgültige Miene ist hier trotz Langeweile und Neugier Pflicht. Fassaden, doch hinter jeder einzelnen verbirgt sich eine Geschichte, ein Schicksal, eine Menschenseele.

 

Gegensätze prallen aufeinander. Zottelige braungebrannte Rucksacktouris rempeln gestylte Opernbesucher an. Motz wird in sonorem, monotonem, 100fach wiederholtem Wortlaut feilgeboten. Der Hund des Obdachlosen wartet geduldig, bis sich die Türen wieder öffnen und sie gemächlich in den nächsten Wagen schlurfen können.

 

Die Mutti mit dem aufgespießtem Dutt redet so schnell und lebhaft, daß ihre roten Plastikohrringe klappern und von der dazu passenden häßlichen Brosche auf dem von voluminösen Körpermassen fast gesprengten T-Shirt ablenken. Ihre Nachbarin hat Mühe, mit einer kurzen Bemerkung den Redeschwall auch mal zu unterbrechen.


Vor der hinteren Tür kauert eine schmächtige, zusammengesunkene Gestalt. Kontrollverlust, die letzte Dröhnung hat ihn umgehauen. Seine Freundin hockt vor ihm und streicht ihm sanft über die verschwitzte Stirn. Sie wirkt so zerbrechlich, fast durchsichtig, daß sie kaum in der Lage sein wird, ihn hochzuziehen, falls sie irgendwann einmal aussteigen wollen.

 

Ein Businessman fixiert das Laptop auf seinen edelbehosten Knien, während er hektisch lebenswichtige Banalitäten in sein Handy formuliert. Zwei Jungs entladen ihre in der Schule aufgestauten Aggressionen, indem sie ihrer Mitschülerin an den schwarzen Rastalocken ziehen, bis sie schreit.

 

Mir gegenüber sitzt ein kleiner chinesischer Junge und popelt konzentriert in seiner Nase. Er betrachtet den Erfolg seiner Nachforschungen mit gewissem Stolz und ich lächele ihn an. Er strahlt zurück und sagt etwas in seiner Sprache zu seiner Omi, deren Gesicht sich aufhellt. Sie schenkt mir ein warmes Lächeln - wir verstehen uns auch ohne Worte.

 

Ein Farbiger spielt Gitarre und singt "Talking about a Revolution", der Zug rattert über die Gleise and it sounds like a whisper. "Wir sitzen alle im gleichen Zug und reisen quer durch die Zeit", wir verbringen zufällig ein paar Minuten unseres Lebens zusammen, um uns dann nie wieder über den Weg zu laufen - oder doch?

 


© rv 26. Sept. 2003