Lukas



Montagmorgengrauen und die Woche nimmt kein Ende ... kurz vor halb acht, gleich Antritt zum Rapport. Montags kennt der Chefarzt in der Frühbesprechung keine Gnade, wo ist denn bloß der Kittel ohne Kaffeefleck – ich hatte Wochenenddienst und muss meinen Bericht abliefern, darf nicht zu spät kommen. Zwei Abgänge heute nacht, die traurigen Augen der Angehörigen verfolgen mich noch immer. Warum habe ich nichts Anständiges gelernt? Ich möchte doch Menschen helfen und nicht deren Tod beklagen müssen... oh nein, jetzt auch noch der Piepser – Notfall auf der 7. Bin ich denn der einzige Doc hier? Auf Station herrscht helle Aufregung, mal wieder keine Examinierte zur Stelle. Die Patientin röchelt, Schnappatmung hat schon eingesetzt, sie ringt nach Luft, kämpft, es drängt mich, für sie mitzuatmen, aber es ist nicht genug Sauerstoff für uns beide da, meine Kehle wird enger und enger, mein Stethoskop würgt mich....


"Mami hör mal, der Opa schnarcht aber komisch...! Warum schläft der denn hier draußen - ist doch viel zu kalt, warum hast du denn kein richtiges Bett zu Hause?" Ich blinzele, sehe in große, fragende Kinderaugen, die meine zerlumpte Gestalt interessiert mustern. "Deine Hose hat Löcher, bist du auch hingefallen?" "Lucas, kommst Du wohl sofort weg da" - die hysterische Stimme der Mutter überschlägt sich fast. Wahrscheinlich hat sie Angst, dass das Ungeziefer, mit dem ein Penner wie ich behaftet sein muss, bei ihrem adrett gekleideten Sprössling eine neue Heimat sucht. "Wie heißt du denn?", fragt der Knirps neugierig. "Lukas" krächze ich. Die braunen Kinderaugen weiten sich noch mehr. "So heiß ich auch", gluckst der Pimpf noch, bevor ihn die energische Hand der Mutter weiterreißt. "Ab jetzt in den Kindergarten. Und wehe, du gehst noch mal so nah an so einen Kerl ran!". Der Kleine dreht sich noch einmal um, lacht mich freundlich an und winkt mir zum Abschied zu. Bedächtig winke ich zurück, freue mich über sein Lächeln und bin froh, dass er mich meinen Alpträumen entrissen hat. Mir ist verdammt kalt, alles tut mir weh - bis auf die Füße, die spüre ich nicht mehr. Das wäre mir alles nicht so bewusst, wenn ich weiter schlafen könnte - ich habe also die Wahl zwischen grässlichen Träumen und feuchtkalter Realität. Die Worte des Kleinen hängen noch in der Luft "...kein richtiges Bett zu Hause" - eine Wohnung habe ich schon lange nicht mehr. Ich mache Platte hier unter der Alten Brücke auf der südlichen Mainseite. In Frankfurt Sachsenhausen hab ich früher auch schon mal gelebt, allerdings weitaus komfortabler - lange ist das her....

Viel zu früh hat dieser graue Novembermorgen angefangen. Nebelfetzen hüllen den trübe plätschernden Fluss ein, die Bäume sind fast kahl. Nasse Blätter wehen unter meine Brücke, der feuchte Wind lässt mich schaudern. Ich ziehe meine schmutzige Jacke enger um mich herum und bin froh über die fadenscheinige Decke, die mir der kleine Italiener geschenkt hat. Der lebt auch schon seit vielen Jahren auf der Straße, schlufft Tag für Tag mit kleinen Trippelschritten in seiner schäbigen blauen Anzugjacke auf der Suche nach Ess- und Brauchbarem von Papierkorb zu Papierkorb. Wenn er lächelt, funkelt sein sonniges Gemüt aus alten Augen in einem zerfurchten Gesicht, so als ob er die Wärme Italiens noch immer in sich trägt. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen, vielleicht hat er es doch endlich irgendwie geschafft, zurück nach Sizilien zu kommen.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sonnenüberflutete Olivenhaine, die Luft flirrt vor Hitze. In der Ferne leuchtet das Meer und verspricht die ersehnte Abkühlung. Ich bin wieder 34, mit dem Fahrrad in Italien unterwegs, gerade stolzer Facharzt für Innere Medizin geworden. Diesen Urlaub habe ich mir redlich verdient, der Stress vorher war immens und hat mich derart ausgelaugt, dass meine Blutzuckerwerte völlig durcheinander geraten sind. Selbst kurz vor der Ketoazidose stehend hab ich meine Patienten instruiert, eine derartige Überzuckerung und Übersäuerung zu vermeiden. Hoffentlich haben sie meinen verräterischen schlechten Mundgeruch nicht bemerkt. Ein diabetischer Internist, der wegen viel zu hoher Werte zusammenklappt, ist nicht gerade ein Muster an Disziplin. Und jetzt fahre ich 100 km Rad pro Tag, meine Werte sind bestens, meine Kraft schier unerschöpflich. Wie schön das Leben sein kann.

25 Jahre ist das jetzt her. Viel geschehen ist in dieser Zeit, wenig in den letzten Jahren, die ich hier draußen verbringe. Ich bin so entsetzlich durstig mal wieder, mein Körper schreit nach Wasser und wohl auch nach Insulin. Vor allem aber nach Alkohol. Die dicken Lambruscoflaschen sind leer. Sie haben dazu beigetragen, dass der gestrige Abend für Harry und mich wenigstens erträglich war, auch wenn Harry mir zum 30. Mal zahnlos schmatzend die Geschichte seiner verkorksten Ehe erzählt hat. Aber wenigstens war ich nicht so allein. Ich sehe mich um, kann aber nur Lumpen und Müll erkennen. Harry ist schon wieder unterwegs, wer weiß, wohin. Ich brauche jetzt unbedingt Alk, um auf die Füße zu kommen, diesen grauen Tag aushalten zu können...

Ich suche in den vielen Taschen meiner kaputten Jacke nach Insulin, irgendwo hatte ich doch noch eine Ampulle und eine Spritze. Schließlich finde ich beides und ziehe mit der stumpfen Spritze ein paar Einheiten auf, spritze mir das Zeug durch ein Loch in der Hose in den Oberschenkel - lieber nicht zuviel, wer weiß, ob ich heute was zu essen finde. Seltsam - leben will ich nicht mehr, aber einfach so sterben kann ich auch nicht. Oft habe ich daran gedacht, Schluss zu machen, vom Schmerz überwältigt und konnte es dann doch nicht. Ich weiß, dass meine Tage gezählt sind. Ich habe alle Folgeschäden eines Typ I - Diabetes, mich wundert, dass meine Nieren überhaupt noch etwas produzieren, ich noch laufen kann und wenn auch verschwommen doch noch etwas sehe. Vielleicht ereilt mich doch bald mal ein Herzinfarkt oder Schlaganfall mit nachfolgendem gnädigem Ableben.

Obwohl ich ganz unten bin, kann ich nicht einfach so aufgeben, organisiere mir doch immer wieder Insulin von den Sozi-Docs aus dem Ambulanzbus oder von Schwester Dorothea im Schiffer-Krankenhaus, die mich noch von früher her kennt und mich trotz allem noch mag. Sie wollte mich bei sich aufnehmen, aber das konnte und wollte ich ihr nicht zumuten. Sie kam immer wieder, sogar hierher, um mir zu helfen, bis ich sie schließlich so sehr angeschrien und verletzt hatte, dass sie mich endlich in Ruhe ließ. Schon widersinnig - einerseits beklage ich die Einsamkeit, andererseits kann ich mit Nähe und Zuneigung, liebevoller Empathie nicht mehr umgehen, schlage dann um mich.

Ich finde noch ein paar Münzen in der Hosentasche - genug, um den Flattermann zu beruhigen. Also schleppe ich mich hustend und fröstelnd durch die vom Verkehrsinfarkt bedrohten Straßen zu Aldi, hole mir meinen Fusel und kann es gar nicht erwarten, die wohltuenden ersten Schlucke durch meine ausgetrocknete Kehle rinnen zu lassen. Wohlige Wärme durchflutet mich, in diesen Momenten geht es mir gut, ich halte mich an einem Gefühl der Zufriedenheit und Geborgenheit fest, vergesse die Einsamkeit und Leere tief in mir. Ich habe alle Kontakte von mir aus abgebrochen, auch Tom, mein Sohn, soll sich nicht für einen Penner-Pa wie mich schämen müssen. Auch ihn habe ich damals rüde von mir gewiesen, verletzt und beleidigt, habe die Fassade des selbstgerechten Arschloches aufrecht erhalten, um zu verhindern, dass er Einblicke hinter die verschlissenen Kulissen eines „Promi-Docs“ gewinnen könnte. Auch als Vater habe ich versagt, nicht nur als Arzt. Tom hätte ein Vorbild verdient anstatt eines sein Leben in den Sand setzenden väterlichen Prototyps. Tom schloss sich vor einigen Jahren der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" an, um im bürgerkriegsgebeutelten Afrika Menschen zu helfen. Auf seinen Idealismus bin ich sehr stolz und davon überzeugt, dass er im Gegensatz zu mir stark genug sein wird, um voll und ganz zu seinen Zielen zu stehen.


Die Gedanken an mein Versagen quälen mich, ich will sie nicht mehr ertragen müssen und nehme darum noch einige beherzte Schlucke aus der Schnapsflasche, um auch noch das letzte Bisschen selbstkritischen Verstand zu ertränken. Ich schwanke an einer Häuserzeile vorbei. Mit Einkaufstaschen bewaffnete Bürger weigern sich, ihren Steig mit einem Outlaw wie mir zu teilen und wechseln naserümpfend die Straßenseite. Ich humpele auf meinen tauben Füßen in den Park, denn dort belästige ich an diesem unwirtlichen Vormittag mit Sicherheit niemanden. Mir ist schwindelig und flau, darum lasse ich mich auf eine feuchte Parkbank fallen. Im Papierkorb neben mir nehme ich verschwommen eine aufgeweichte Bäckertüte wahr. Mein Magen knurrt vernehmlich, also inspiziere ich die Tüte und finde ein angekautes Hörnchen. Hungrig beiße ich ab, versuche, mit meinen Zahnruinen notdürftig zu kauen, wobei mir der Speichel aus den Mundwinkeln rinnt. Mein noch immer vorhandenes Schamgefühl verstärkt sich, weil ich mich bei diesem unappetitlichen, gierigen Verschlingen beobachtet fühle. Es ist jedoch kein Mensch in der Nähe, sondern nur ein kleiner, zerzauster, völlig verwahrloster schwarzer Strubbelhund mit einem zerfetzten linken Ohr. Sein flehender Blick aus großen schwarzen Kulleraugen fixiert das Hörnchen in meiner Hand, bevor er den meinen trifft. Wir sehen uns in die Augen und verstehen uns: Solidarität zwischen zwei schmutzigen, verkommenen, auf der Straße dahin vegetierenden Lebewesen. Ich teile das aus dem Müll gefischte Hörnchen in zwei Stücke und biete die größere dem kleinen schwarzen Wesen an. Er legt den Kopf schief, um abzuwägen, ob er mir trauen kann oder ob eine unverzügliche Flucht ratsamer wäre, zumal er schon viel zu oft mit Fußtritten gequält und vertrieben wurde. Mir tut der kleine, nasse, hungrige Kerl leid. In mir regt sich ein zärtliches Gefühl für diesen Hund. "Pipo" würde ich ihn nennen und teile ihm das auch mit. Er blinzelt mir freundlich zu. Ich würde zu gern sein Vertrauen gewinnen, sehne mich geradezu danach. Er scheint hin- und hergerissen zu sein. Noch immer hält ihn seine auf der Straße erworbene Vorsicht zurück. "Komm her, Pipo, ich tue dir nichts." Der Klang meiner Stimme scheint ihm zu gefallen. Der schwarze Hund setzt sich langsam in Bewegung, schnuppert vorsichtig an dem durchweichten Hörnchen und nimmt es behutsam aus meiner Hand. Im nächsten Moment ist es schon verschlungen, verschwunden wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. "Du bist ja vollkommen ausgehungert, kleiner Pipo!" Der kleine Schwarze bestätigt dieses, indem er hingebungsvoll seufzt. Ich unterziehe den Papierkorb einer genaueren Betrachtung und wir haben tatsächlich Glück – es finden sich noch zwei von mütterlicher Hand sorgsam verpackte und dennoch verschmähte Pausenbrote, die wir uns brüderlich teilen. Danach lässt die Zurückhaltung des Hundes deutlich nach. Ich halte ihm meine Hand hin, die ausgiebig von ihm beschnuppert wird. Vorsichtig versuche ich, das nasse schmutzige Zottelfell zu streicheln – der Kleine weicht jedoch erschrocken zurück. Zuwendungen dieser Art sind also nicht nur mir fremd geworden. Es regnet jetzt heftig, so dass ich nach einem kräftigen Zug aus der Flasche beschließe, das spätherbstliche Picknick abzubrechen, um wieder in mein "Zuhause" zurückzukehren. Ich schlurfe aus dem Park, während Pipo weiterhin den Papierkorb bewacht. "Schade", denke ich, "seine Gesellschaft hat mir gut getan." Aber was soll ich mit einem Hund, ich bin ja noch nicht mal in der Lage, mich um mich selbst zu kümmern, geschweige denn um andere ...