Patina der Klänge
Rolscht 2010
15:20 Uhr Gleis 2, Bahnhof Rudolstadt – endlich Frühstück. Nach zwei verschwitzten Matschbrötchen freut sich mein Magen auf das Pfund Kirschen, das ich während meines Rückzugs vom Folkfestival noch schnell erworben habe. Sie scheinen gerade erst von einem thüringischen Baum in die Pappschale gehüpft zu sein. Der bummelige Regionalzug überrascht mich im sinnlichen Genuss Versunkene mit seiner plötzlichen Einfahrt und verschluckt Unmengen von alternativen Sandalen, Hüten, Rucksäcken, Kinderwagen und ihre verschwitzten, müden Besitzer. Ich verstaue meinen himmelblauen, an die reisende Rolltasche gezurrten renitenten Zeltkreis und spucke weiter Kerne in die Tüte. Sommer pur verwöhnt meine Zunge und besudelt seit vier Tagen meine Haut. Ich werde heute Abend, wenn es endlich wieder dunkel und nicht mehr ganz so heiß ist, mit Hammer, Meißel, Spachtel und Bürste in meine Wanne klettern und die wundersame Patina der letzten Tage entfernen, bis eine staubgesättigte Schweißbrühe im Abfluss verschwunden sein wird. Nicht ins Vergessen der Kanalisation geraten werden jedoch meine wundervollen Erinnerungen an die bewegenden Eindrücke der letzten fünf Tage unterwegs im Osten. Berlin – Leipzig – Rudolstadt – und hier gleich die ganze Welt habe ich erlebt und mich von ihren musikalischen Wundern, ihrer Energie (und hier meine ich nicht nur die überzähligen Kilow/a/etter des brüllenden Planeten in the sky over us) überwältigen lassen. Es wird dauern, bis ich das Erlebte sortiert und verdaut haben werde. Unglaublich anstrengend war diese Weltreise und doch möchte ich keinen Moment missen, trotz und gerade wegen sämtlicher Risiken und Nebenwirkungen, die auch meine beiden wunderbaren Mitstreiter Theris (Ines) und Bleekman (Jürgen) nicht unverschont ließen. Denn eines steht fest: Kalt war es nicht.
Rudolstadt stand ganz und gar unter den alternativen Zeichen des Folkfestivals. Nicht nur die bunt gekleideten Sozialpäds mit den für sie typischen Fliegenklatschen an den Füßen vermittelten diesen Eindruck, sondern auch die Infostützpunkte, in denen niemand so genau Bescheid wusste. Die thüringische Savanne staubte und so schleppten wir uns bedröhnt von der Hitze die Kleingartenkneipe gleich neben dem Zeltplatz. Drinnen war es kühl, die Kaltgetränke zischten und wir kamen wieder zu uns, bis sich Bleeki schließlich im Landeanflug befand. Wir erleichterten den Zitronenfalter und bauten gekonnt unsere Zelte auf. Leider machte eine von Ines Zeltstangen schlapp und musste von ihr notfallmäßig chirurgisch versorgt werden. Nach getaner Arbeit fielen wir ins heiße Heu und füllten unsere Flüssigkeitsvolumina wieder auf. Der brüllende Planet knallte auf unsere Hirne, Schatten war nicht. Der Not gehorchend erfand ich auf die Schnelle den leider nicht allein stehenden Isomattenlichtschutzfaktor, während die ersten Teilnehmer unserer beschaulichen Reisegruppe bereits einnickten.
Unter den beiden weiblichen Übriggebliebenen entspannen sich eigenartige Dialoge, deren Schrägheit womöglich auch durch den unzureichenden Schutz der Isomatten, die direkt an den heißen Köpfen klebten, bedingt war. Erschwerend kam hinzu, dass die wackeren Zeltaufrichter ringsum seltsame Bemerkungen fallen ließen: „Wir brauchen einen langen…“, „Nein, er baumelt noch…“.
Wir machten uns ernsthaft Sorgen und diskutierten Ursachen und (Neben-)Wirkungen, dachten über fragwürdige Untersuchungsmethoden nach und stellten wieder einmal fest: „Kalt isses nich“.
Das alles ereignete sich letztes Jahr im Juli, noch bevor wir uns richtig ins Geschehen stürzen konnten. Leider habe ich es letztes Jahr versäumt, zeitnah meine musikalischen Eindrücke in Worte zu fassen und so blieb der Bericht über das Festival 2010 in Rolscht leider unvollendet.
Lediglich einige Fotos zeugen von einem beeindruckenden Folk-Festival in brüllender Hitze: