Patina der Klänge 2011
Eine Patina der Klänge habe ich auch dieses Jahr wieder mit nach Hause genommen, eine Patina jedoch, die sich so ganz anders angefühlt hat als 2010. Und das lag nicht nur an den schrägen Witterungsbedingungen, die so etwas wie Staub in der Luft gar nicht erst entstehen ließen. Vielmehr haben gerade auch die abstürzenden Gewässermassen dafür gesorgt, dass mir viele der überwältigenden Eindrücke direkt unter die Haut gegangen sind. Der Rest wurde zu sattem Schlamm, der das Bar der Füße schützte.
Es waren drei sehr lebendige Tage, die ich mit Ines in Rudolstadt erleben durfte. So manch einer würde sagen, dass das schlechte Wetter alles verdorben hat. Wir haben es mitnichten so empfunden, sogar mit Neffen, denn vergnügte Kinder gab es dort genug. Zeitweise hat die durch den nicht gerade sparsamen Regen melancholische Stimmung die musikalischen Impressionen sogar intensiviert. Aber nun zur Abwechslung einmal der Reihe nach.
Freitag
Für mich gestaltete sich die Anreise in Ines Zitronenfalter ausgesprochen angenehm. Ich wurde durch eine wunderschöne, von sonnigen Wölkchen umrahmte thüringische Landschaft gefahren. Da das Festival in diesem Jahr erstmals bereits donnerstags begonnen hatte, war unser Platz zum Zelten ein sehr naturnaher, zentrumsferner, in die Landschaft direkt eingebundener, gleichwohl sehr praktischer, weil direkt neben der zweiten Kaffeezapfstation gelegen, was sich nach dem Aufwachen als unschätzbarer Vorteil erweisen sollte. So konnten wir unsere noch nicht ganz ausgeschlafenen, den Penntüten gerade entkrochenen Triebwerke am Samstag- und am Sonntagmorgen mit einem ordentlichen Eimer Kaffee jeweils schonend ankurbeln, während das benachbarte Aggregat den nötigen Strom zusammenknatterte, bevor wir uns in unseren sozialpathologischen Fliegenpatschen aufmachen würden, um Musik und kunterbunte Eindrücke inhalieren zu gehen.
Am Freitag jedenfalls gab es nach einem flotten Zeltaufbau zunächst das traditionelle Begrüßungs-Eibauer für Ines und immerhin schon zum zweiten Mal Piratenbrause für das Nachtlicht direkt vor Ort, bevor wir uns zum Bändchentausch und danach zur offiziellen Festivaleröffnung auf dem Rolschter Marktplatz aufmachten. Diese erlebten wir spinnenderweise von linksaußen, was wieder einmal die einen oder anderen neugierigen, aber auch skeptischen Fragen und Blicke provozierte.
Das Bühnengeschehen umfasste zunächst die obligatorischen kommunalpolitischen Begrüßungsreden, danach wurde das diesjährige Themenland Schweiz von einer dort einheimischen Moderatorin teilweise jodelnd präsentiert. Hier durfte das mit Alpgehörn gewürzte, ebenfalls unvermeidliche Gebläse nicht fehlen, was meinen Ohren ein klein wenig weh tat. Wir intensivierten daher unsere Spinnerei, während obendrein Walzer getanzt wurde und ähnliches vor sich hin spektakelte. Spannend wurde es erst, als der Schweizer Anton Bruhin seine Maultrommeln in dasselbe nahm und eine kurze Zusammenfassung seines Könnens darbot. Es klang außerirdisch, wie eine Mischung aus Didgeridoo und Synthesizer. Ines war begeistert, ich neugierig, und wir beschlossen, diesem Herrn am nächsten Tag näher auf den schwingenden Zahn zu fühlen. Im Vorfeld hatten wir beabsichtigt, im Anschluss an das offizielle Intro in die Stadtkirche zu gehen, um vier Schwedinnen beim à cappella-Gesang zuzuhören. Aber wie so oft in Rolscht machen sich Pläne gern selbständig und sowieso was sie wollen, denn auf der Marktbühne wurden Taiko-Trommeln aufgebaut. Ich kannte das noch nicht, aber Ines Freude darüber war ansteckend und so harrten wir der Mädels (Rasa Daiko), die dort trommeln und tanzen sollten. Eine geniale Symbiose zwischen rhythmischer Musik und ebensolchen Bewegungen, sehr harmonisch, kraftvoll, mitreißend. Es machte ganz einfach unheimlich viel Spaß!
Nach dem Genuss diverser Kaltgetränke und einer lecker Waffel wurde es Zeit für’s Abendessen und das war kartoffelig und wunderbar warm. Manche nachtlichter schlottern beim still vor sich hin Spinnen und bedürfen daher einer Aufwärmung. Danach lief musikalisch nicht mehr viel. Der Markt war zwar überfüllt, aber die internationalen Harfenklänge vermochten uns nicht zu begeistern und so klapperten wir noch zwei Bühnen ab, die auch nichts Weltbewegendes zu bieten hatten. Also zogen wir uns dezent ins Zelt zurück und fielen bräsig um.
Samstag
Das Aggregat hatte schon eine ganze Zeit lang viel- versprechend geknattert, als wir uns verpennt aus den Säcken pulten und dem Samstag in sein graues Gesicht blickten. Der Not gehorchend schlufften wir zwecks Output zunächst eilig am Kaffeestand vorbei Richtung Dixi, bevor wir uns mit zwei richtig großen Bechern Kaffee dem Input widmen konnten. Das kam gut und so hüpften wir fix in unsere Ausgehklamottage (Regenpelle war unverzichtbar, denn es dräute bereits sehr dunkel aus mindestens drei Himmelsrichtungen). Auf dem Weg in die Stadt betrachteten wir interessiert die Campingausstellung, bevor wir hungrig eine Kneipe in einer Seitenstraße enterten. Frühstück! Danach spukten unsere Lebensgeister übermütig und wir stiefelten durch den einsetzenden Landregen zurück zum Heinepark. Obwohl es erst kurz nach dem Frühstück Rudolstädter Zeitrechnung war, ging es dort bereits zu wie im Pub. Interessant gewandete Halbzombies, die GloryStrokes aus UK -> siehe Ines geniale Beschreibung der Jungs in ihrem Bericht (2. Tag, 2. Absatz) spielten zum Tanz auf und auch wenn es sich hierbei um einen mit sofortiger Wirkung erfolgreichen Regentanz handelte, war die Stimmung bestens. Bei rockigen Passagen wurden heads gebängt und folks pogten, dass es krachte, während ein Mensch sogar über die crowds surfte – er besaß allerdings nur ein Kurzstreckenticket.
Die fünf Typen auf der Bühne stärkten sich unentwegt mit Bier und als zwei von ihnen später nacheinander Mikros in die Hand nahmen, zeigte sich, dass die guys auch noch richtig genial singen konnten – mit so guten Stimmen, dass sich meine Gans fast häutete. Schade, dass sie nur so wenig Songs zum Besten gaben, etwas weniger Tanzmusik wäre auch nicht schlecht gewesen. Das Publikum war hin- und mitgerissen – ein fulminanter Einstieg in unseren zweiten Festivaltag.
Kontraste machen einen großen Teil der Faszination von Rolscht aus. Und so bewegten wir uns gemächlich von Fressbuden über Getränkestände zu wundersamen Schmuckständen (böse!!! Portemonnaie verstecken!!!) und näherten uns dann doch zeitig der Stadtkirche. Hier ließ sich die Wartezeit auf den Stufen wiederum mit Spinnereien überbrücken, bis wir schließlich die Kirche stürmen und supergute Plätze in der zweiten Reihe erobern konnten. Von hier aus war die Sicht auf Anton Bruhins Versuchsanordnung richtig gut und wir waren sehr gespannt.
Der Künstler wirkte zurückhaltend und wohltuend bescheiden, erzählte in seinem gemütlichen Schweizer Tonfall von seinen T[ch]rümmmpi (Maultrommeln), von Yakutien, der Heimat der Maultrommeln, wo es acht hauptamtliche Maultrommelforscher gibt, die Anton natürlich längst besucht und beeindruckt hatte. Er plauderte über seinen Vater, einen Müller, der wegen permanenter Sacklöcherung Jagd auf Spatzen machte und mit der Schrotflinte einmal 50 auf einen Streich erwischte – dieser Massenmord spiegelt sich in Bruhins Stück „50 Spatzen“ wider. Außerdem spielte er den einen oder anderen Schorsch. Schorsch, weil Anton sich bei diesen Stücken nicht entscheiden konnte, ob sie schottisch sind oder es sich um einen Marsch handelt. Später ließ der Künstler sein Maul trommelnd eine Mücke bis hin zum finalen Stich nerven.
Anton Bruhin zeigte uns mit Hilfe wassergefüllter Gegenstände, die er in sein Maultrommelspiel einbezog, faszinierende physikalisch fundierte Klangvariationen. Viel zu schnell waren sein Spiel und interessanter Vortrag schon wieder vorbei und wir verließen die Kirche in Richtung Regen.
Zeit für etwas Warmes, denn schließlich hatten wir noch einiges vor. Überhaupt war die kulinarische Versorgung vom Feinsten, so dass eine warme Mahlzeit/Tag keineswegs ausreichte. Es ist müßig zu erwähnen, dass es auch an diesem Abend lustig regnete. Es spielte keine Rolle und fiel kaum noch auf. Der Griff zur Kapuze der Regenpelle hatte sich automatisiert. Wir guckten uns zur Überbrückung noch zwei Kneipen von innen an, denn das letzte Konzert dieses Festivaltages sollte erst um 1 Uhr am frühenden Sonntagmorgen beginnen.
Inzwischen war aus dem gut gelaunten Landregen ein dauerhafter Wolkenbruch geworden und so hatten wir kein Problem, direkt vor der Bühne am Geländer Plätze zu finden. Wir waren sehr gespannt auf die Norwegerin Maria Franz, die schon bei Valravn Gastsängerin war, und nun mit ihrer eigenen Band Euzen auftreten sollte. Dieses zarte, schmale Wesen mit den langen roten Locken verfügt über eine grandiose Stimme. Und über ein Charisma, das mich ihre Musik als nicht zu dieser Welt gehörig empfinden ließ. Ich fühlte mich in die norwegische Wildnis versetzt, in ein Land der Trolle und Faune, der Kobolde und Feen - und auch Elfen, ok, auch diese ätherischen Wesen mit dem Hauch der Unantastbarkeit gehören dazu. Maria Franz, die Bardin, vereint sie alle in ihrer Persönlichkeit.
Der Sound direkt vor der Bühne war leider für unsere ungeschützten Ohren viel zu laut, so dass wir uns ins Mittelfeld zurückzogen und hier auch ohne Fingerspitzen in den Ohren den Klang genießen konnten. Es war ein traumhaftes Konzert und so wateten wir sehr angeregt und glücklich, dabei gewesen zu sein, durch Schlamm und Pfützen zurück zum Zelt. Pladdernass wie wir waren suchten wir in seinem Inneren Schutz – und fanden Trockenheit. Wunderbar. Wir hockten noch ein bisschen im beschaulichen Funzeln unserer Taschenlampen zusammen, ließen den Tag Revue passieren, prosteten uns zu und verschwanden nicht viel später in unseren Schlafsäcken, um uns von der unaufhörlichen Percussion von abertausend Tropfen in den Schlaf trommeln zu lassen. (Die Tatsache, dass manche nachtlichter, die in der freien Wildbahn kampieren, ausgewachsene Schlotterbacken sind und statt einer dünnlappigen Hülle mindestens einen Daunenschlafsack benötigen, muss an dieser Stelle nicht ausdrücklich betont werden. Beim nächsten Mal nehme ich auf jeden Fall mein Polarmodell mit, egal, ob das Event nun im Juli oder im Sommer stattfinden wird.)
Sonntag
Der Sonntag begann fast so feuchtfröhlich, wie der Samstag aufgehört hatte. Allerdings hatten wir Glück, es tröpfelte nur verhalten in unsere Kaffeeeimer und das abzubauende Zelt war zwar absolut nicht trocken, aber immerhin schiffte es für ein paar Minuten mal nicht auf unsere Köpfe. Das Frühstück schien beinahe Opfer einer wiederum stattgehabten Zeitverschiebung geworden zu sein, unsere Stammkneipe jedenfalls wollte nur noch Mittagessen servieren. Zum Glück gab es genug bestuhlte Bäckereien und schon sah der Sonntag wieder sonniger aus (jedenfalls von innen). Danach überfiel ich gleich zwei Schmuckstände nacheinander. Ersterer wurde von einem gefährlichen Wolf bewacht.
Am liebsten hätte ich dieses Gemütstier ausführlich umarmt und geknuddelt. So eine Seele von Hund! Stattdessen kaufte ich seinem Besitzer Josefine ab. Sie hat noch vier Beine mehr als der Wolf und ihr Sterling-Silber steht mir ganz entzückend. Der Pirat von heute trägt schließlich Spinne. Und Granaten nicht zu knapp, wie der Besuch beim 2. Schmuckdealer zeigte. Bevor mich noch mehr Geld verlassen konnte, gingen wir lieber wieder zurück in den Heinepark. Einige Besucher zeigten bereits erste Ermüdungserscheinungen.
Wir erlebten zwei sehr schräge Songs der ukrainischen Band „Dakha Brakha“, die nicht nur ausgesprochen temperamentvoll, sondern auch sehr laut auftraten und gute Laune versprühten. Zwischendurch wurde – da schließlich die Mahlzeiten eingehalten werden mussten – der indische Pakorastand aufgesucht – lecker scharf war das. Wir verweilten ein bisschen bei „Rast im Park“, doch die Laien konnten mich noch nicht einmal von meinem wackligen Sitzbein reißen und so war ich fast schon froh, dass wir uns langsam auf den Rückweg machten. Schließlich wollte – nein, musste - ich meinen Zug um 19:11 Uhr in Leipzig noch erreichen.
Aber dann kam wieder einmal alles ganz anders als geplant und das war ein Geschenk. Auf der Konzertbühne spielten Daniel Kahn & The Painted Bird so eindringlich, dass es auf der Stelle um mich geschehen und mir jeder Zug dieser Welt scheißegal war. Schon seit frühester Jugend liebe ich jüdische Musik und durfte nun Klezmer, Tanzmusik, Brecht/Weill-Interpretationen, Arbeiterlieder und Klezmerpunk hören. Die Künstler spielen eine „Melange aus Klezmer, radikalen jiddischen Songs, politischem Cabaret und Punk Folk".
Sarkasmus und gefühlvolle Romantik wechseln einander in schneller Folge ab. Verfremdungsklezmer – Verfremdung in vielen Variationen ist Daniel Kahns Anliegen. Die Regentropfen in meinem Gesicht waren vergessen. An einen dicken Baum gelehnt erlebte ich ein Wechselbad der Gefühle. Daniel Kahn vermochte es, meine Augen, die gerade noch geweint hatten, im nächsten Lied oder auch nur ein paar Strophen später lächeln zu lassen. Jetzt und hier – so sicher, zur richtigen Zeit genau am richtigen Ort zu sein, war ich schon seit langem nicht gewesen.
Diese Musik bewegt mich (noch immer) zutiefst, weckt meine Sehnsucht, hüllt mich in Wehmut, tröstet, lässt mich lachen und weinen und lauthals protestieren. Die Zeit schien einfach so an uns vorbei zu gehen, doch irgendwann verabschiedeten sich die Künstler und es war nun tatsächlich höchste Eisenbahn (?!), den Rückzug anzutreten. Es tat mir leid, unsagbar leid, dieses Festival verlassen zu müssen – viel zu tief war ich eingetaucht in eine Welt der Klänge, der Farben, der Gebärden und Gefühle. Vergessen war der stressige Alltag – und dahin sollte ich jetzt zurück? Protest! Es waren nicht nur Regentropfen, die trotzig und wehmütig zugleich über meine Wangen rollten. Dennoch war es ein sattes und gutes Gefühl, mit Ines einer Meinung zu sein – das Festival, unsere Erlebnisse waren grandios und wir kommen wieder – nächstes Jahr Anfang Juli! Dass der im Regen treu ausharrende Zitronenfalter zunächst nicht anspringen wollte und ich später meinen Zug verpassen sollte, war unerheblich. So what, es zog mich sowieso nicht nach Hause. Bewundernswert allerdings empfand ich die Ruhe und Gelassenheit, mit der Ines sich von den ersten Ablehnungen nicht entmutigen ließ und dann doch recht bald jemanden fand, der nicht nur hilfsbereit war, sondern obendrein über Starthilfekabel verfügte. Nach vorübergehendem Stottern sprang das leuchtend gelbe Fahrzeug dann doch wieder an und so ließen wir ein wundervolles Festivalwochenende in Rudolstadt hinter uns – und des Zitronenfalters knallgrünen Untermieter.