Mel ist ein Arschloch

Auch wenn ich mit der frühen Zwangseheschließung anno 1984 mit Mel, meinem Typ I Diabetes mellitus, ganz und gar nicht einverstanden war und bin, scheine ich mit diesem unwürdigen Partner  ganz gut klar zu kommen. So stelle ich mich jedenfalls dar, denn ich will ihn weder auf den Präsentierteller legen noch um Mitleid heischen. Er gehört nun einmal zu meinem Leben dazu, ist nichts besonderes. Wenn jemandem auffällt, dass ich messe und/oder spritze und sie oder er Interesse zeigt, antworte ich wahrheitsgemäß. Aber ich binde niemandem den Typen ungewollt auf die Nase. 

 

Ich komme mit ihm ganz gut zurecht, ja, das stimmt. Aber nicht immer. Zum einen gibt es sehr, sehr dunkle Episoden in unserer Beziehung, Abgründe, die mich in die Knie zwingen und auch schon einmal auf die Intensivstation eines kranken Hauses gebracht haben.

 

Weniger dramatisch, dennoch gravierender sind jedoch die Auswirkungen unseres Alltags miteinander. Er verlangt ständige Aufmerksamkeit, nie darf ich seine Existenz vergessen. Das wäre fatal. Ich kann und darf keinen Urlaub von ihm nehmen "Du, ich fände es gut, wenn wir uns eine Zeit lang nicht sehen, ich brauch mal 'ne Auszeit..." is nich. Es ist unerlässlich, dass ich mich ständig beobachte, mich vergewissere, wie es mir geht, um rechtzeitig Unter- oder Überzuckerungen zu vermeiden, im Job funktionieren zu können. Ich muss ständig denken - berechnen, wie viele Kohlehydrate mein Futter enthält, davon abhängig Insulin spritzen, vorher feststellen, ob der aktuelle Blutzuckerwert überhaupt eine Nahrungszufuhr erlaubt. 

 

Manchmal darf ich nicht schlafen, wenn ich z. B. feststelle, dass ich versehentlich zuviel Insulin gespritzt habe. Bisher bin ich im Schlaf hilflos. Die wirklich dramatischen Unterzuckerungsereignisse der letzten Jahre sind mir immer in dieser Situation passiert... Daher hoffe ich stark, dass ich bald einen der klügeren Blutzuckersensoren bekomme, der bei niedrigen Werten warnt.

 

Mein Gedankenkarussel dreht sich zwangsweise um ihn. Ich muss immer etwas müssen. Unentwegt diszipliniert sein - jeden verdammten Tag. Das zermürbt. Aber ich habe keine Wahl, wenn ich leben will...

 

Es hilft mir, darüber zu schreiben, mich hin und wieder auszukotzen. Daher beschreibe ich im Folgenden einige der besonders nervtötenden Events...

 

 

 

02. Mai 2019

 

Mel ist und bleibt ein Zwangsgattenar***loch!

 

Heute sitze ich im Büro und habe einen Kater, der nicht miaut und sich scheußlich anfühlt. „Meine“ Hunde haben Brückentag. Ein schlechter Tausch! 

 

Den gestrigen Tag der Arbeit nahm ich zum Anlass, endgültig den Winter von meinem Balkon zu verbannen und den öden Freisitz wieder aufzuforsten. Die wunderschönen Pflanzen, die ich am letzten Wochenende in der Gärtnerei meines Vertrauens erworben hatte, sehnten sich nach größeren Wohnungen mit ausreichender Bewässerung. 

 

Dummerweise sabotierte mein blöder Zwangsgatte Mel meine exzessiven Balkonaktionen. 

Ich hatte offensichtlich die Anstrengungen unterschätzt, hätte vorher das Insulin reduzieren sollen, da ich mich bei der Entsorgung der gesamten alten Blumenerde aus allen Kästen und Kübeln doch ein klein wenig verausgabt hatte. Danach mussten Unmengen trockener Trichterwinden- und Diplomdämchen (=Dipladenia)-Ranken aus dem Katzennetz gerupft werden, darüber hinaus noch die anderen Überbleibsel des letzten Jahres entsorgt und der Balkon gründlich gesäubert werden. Ich wollte unbedingt noch meine Passionsblume, das riesengroße Solanum-Jasmingewächs, die gelbe Diplomdame sowie eine englische Luxusgeranie in adäquate Behausungen verpflanzen. Dummerweise war das alles allein fast nicht zu schaffen, da die Passionsblume und das weißblühende Jasmingewächs riesengroß waren.  Fazit: Mein Blutzucker ging immer wieder in den Keller, war dauerhaft zu niedrig und ich fühlte mich schwach, zittrig und durcheinander. Was zu zahlreichen Zwangspausen zwecks Kohlehydratzufuhr führte und meine exzessiven Balkonaktionen erheblich verzögerte. Als ich schließlich gegen 20:00 Uhr allen Imponderatten zum Trotz mit dem Balkon vorläufig fertig war, ging es mir schon wieder richtig schlecht. In der Wohnung lagen jedoch noch immer Erdferkeleien herum, schwarze Blumenerde zierte die Badewanne und mein verdreckter, verschwitzter Kadaver musste dringend unter die Dusche. 

 

Ich hasse es, Mel ausgeliefert zu sein – und noch viel mehr hasse ich den Kontrollverlust. Es kostet so unendlich viel Energie (die paradoxerweise ausgerechnet in solchen Momenten nicht vorhanden ist), um sich aus dem Abwärtsstrudel zu befreien, wieder Oberwasser zu gewinnen und dieses zu behalten, anstatt immer wieder – so wie gestern – in einer Hypoglykämie unterzugehen und irgendwann zu erschöpft zu sein, etwas gegen die Unterzuckerungen zu unternehmen. 

 

Daher saß ich gestern Abend nach erfolgreichem Staubsaugen, Wanneputzen, Aufräumen und Duschen schließlich völlig ausgepowert an meinen Schreibtisch. Ich hatte großen Hunger und hätte gern etwas Warmes gegessen. Allein fehlte mir die Energie, noch etwas zu kochen und so warf ich mir selbst Faulheit und Antriebslosigkeit vor, blieb in diesem trüben Gedankenkarussell sitzen, bis es mir schwindlig wurde. Unfähig, etwas an meiner Situation zu ändern. Lethargisch, abgestumpft, furchtbar müde. Es kostete mich unendlich viel Kraft, meinen aktuellen Blutzucker zu scannen. Natürlich war dieser schon wieder zu niedrig, ich musste also essen… Es war ein langer Weg in die Küche, ich hatte keinen Bock auf Brötchen, aber was anderes war auf die Schnelle nicht drin. Brötchen auf den Toaster, Käse und Salami drauf, dazu Tomaten mit Chilisalz und einige Physalis, um das Ganze ein wenig aufzupeppen. Das meiste verschwand schon in der Küche im Stehen in meinem Mund und so trug ich nur noch die mit zwei Scheiben Salami belegte Brötchenhälfte, Tomaten, Physalis und einen Pudding ins Wohnzimmer. Was fehlte, war ein Getränk – also noch einmal schnell in die Küche. Als ich zurückkam, hatte ich zwei zufriedene Kater – und keine Salami mehr auf dem Brötchen.

  

Frustriert trollte ich mich irgendwann in mein Bettchen, schließlich war der nächste Arbeitstag nicht mehr fern und KO genug war ich längst. Was sich nicht einstellen wollte, war ein erholsamer Schlaf. Gefühlt 78 x wachte ich auf, bis irgendwann mein kluger Blutzuckersensor Laut gab und mich darauf hinwies, dass mein Glucosegehalt zu niedrig sei. Ach was! 

 

Gut, heute keine Hunde in der Firma. Dafür ein maulender, miesepetriger Kater. Kann nur besser werden. Heute Abend kaufe ich Katzengras für die Piratenmonsterchen und noch ein paar kleinere Pflänzchen für die Balkonkästen, strecke Mel die Zunge raus und forste mit viel weniger Insulin im Blut weiter auf!

 

Du kriegst mich nicht klein, du überflüssiges Zwangsgattenarschloch!!!

 

Donnerstag, 25. April 2019

 

 

Dieser frühe Morgen taugte nix. Ich sitze jetzt ganz wacklig im Zug und bin froh, ihn trotz allem noch erwischt zu haben, weil ich heute früh Feierabend machen muss. Mein kleiner Freund informierte mich um 5:00, dass mein Zuckergehalt zu niedrig sei. Ach was, befand ich, mir geht's doch gut. Und so fütterte ich meine klagenden Waisenknaben und duschte ausführlich, während die Kaffeemaschine Treibstoff produzierte. Danach war mir flau und so setzte ich mich in ein großes Handtuch gewickelt mit einem Kaffeeeimer vor den PC. Kaffee hulf nicht, stattdessen sah ich schwarze Löcher auf dem Bildschirm und im Bett. Nix wie Süßes in mich reingekippt. Es dauerte, bis ich nicht mehr ganz so klapprig war. Höchst ungewöhnlich, eine Unterzuckerung im morgendlichen Hormonrausch - keine Ahnung, wo der Fehler liegen könnte. Also weiter im Text, Klamotten an, Bude aufräumen. Dazu war ich gestern Abend zu müde. Die Haare wollten auch noch in eine bürotaugliche Form gebracht werden. Das Elend im Spiegel wies schon wieder schwarze Löcher auf und meine Knie schlotterten. Kann nicht sein! Zum Glück weiß ich inzwischen, dass beim blöden Mellitus immer alles sein kann - schon wieder < 50 mg/dl mit der Tendenz ins Bodenlose. WTF? Saft in den Föhn, Quark, in den Schlund und weiter Zack zack. Zwei Schweißausbrüche, Frühstück vorbereiten, Rucksackpacken und diverse schleunigste Hausarbeiten später musste ich los. Eigentlich. Ging aber nicht wegen Dünnpfiff. WTFFF! Irgendwie habe ich dann doch noch den Südbahnhof erreicht und fahre nun reichlich durch den Wind mit seltsamer Frisur frohlockend zur Arbeit...

 

Sonntag, 4. November 2018 

 

Heute "früh" war der BZ-Wert nach dem Aufstehen trotz der späten Basalgabe  OK. (Basalgabe: Erhaltungsdosis Insulin unabhängig vom Essen, aktuell morgens um 05:00 und abends um 21:00 Uhr zu applizieren.) Ich hatte den frühen Wecker einfach ignoriert, das Aufstehen immer wieder auf später verschoben, so dass ich mich schließlich erst um 07:15 zum Spritzen zwang.

 

Einige Zeit später bereitete ich mir hungrig mein Sonntagsfrühstück zu und kontrollierte zwecks Insulindosierung nochmals den Wert - viel zu hoch zum Essen. Fertiges Frühstück in den Schrank verklappen, WARTEN. Das macht keinen Spaß...

 

Eine Stunde später - der bescheuerte Blutzucker steigt, anstatt zu sinken. Irgendetwas läuft hier ganz und gar aus dem Ruder...

Frühstücken ist sowieso old school bzw. spießig, oder...? 

 

 

Kissamos (Kreta), 19. Oktober 2018 

Ich setze den Typen aus.

 

Morgen Abend, wenn wir in Frankfurt gelandet sind, kaufe ich ihm ein Fluchticket nach Dubai oder Saudi-Arabien und checke ihn auf Nimmerwiedersehen ein. Den ganzen Urlaub über hat er mich mit hohen Blutzuckerwerten nachts geärgert. Bis ich gestern zu Gegenmaßnahmen ausholte, sprich mehr Basalinsulin nachts spritzte. Leider zu viel. Die erste Quittung erhielt ich nachts gegen 01:00: Der BZ-Sensor meldetete LOW - oh oh. Ausnahmsweise nix Süßes auf dem Nachttisch... also schlurfte ich umme Ecke, trunk Zuckerhaltiges und verzehrte einen Schokoriegel. Nahm sicherheitshalber süße Getränke mit. Schlief zufrieden über die reibungslose Hypobekämpfung weiter... 

 

Das Erwachen war gruselig. Es ging mir entsetzlich, irnktwas krampfte, wahrscheinlich ich, ich raffte nix, schwitzte dafür aber wie blöd. Ich setzte mich hin und versuchte verzweifelt, mein schwindendes Bewusstsein festzuhalten, doch es drohte mir zu entgleiten, ich bildete mir Hirnschwund ein, zog mein Handy zu Rat, konnte nichts sehen, nicht einmal Ines um Hilfe bitten. Überzeugt, dass es nicht helfen würde, zog ich mir dennoch zuckerhaltige Fanta rein, versuchte verzweifelt, die Kontrolle wiederzufinden. Erst nach einem Päckchen Saft raffte ich wieder was, konnte dem Typen die Regie wieder entreißen. Dermaßen abgestürzt bin ich schon lange nicht mehr...

 

Nach einem orntlichen Frühstück und adäquater Insulinzufuhr erfreut mich der Arsch jetzt mit einem BZ-Wert von 457 mg/dl und ich kippe im Straßencafé eimerweise Wasser in mich rein...

 

Morgen schicke ich ihn in die Wüste.

Beschlossen und verkündet!

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